ber je weiter ich in den Südosten der Toskana eindrang, desto ein­drucksvoller wurde die Landschaft; sie war sanft und herb zu­gleich, abwechselnd trocken und grün, voller Überraschungen und immerfort bi­zarr, und ich fuhr und fuhr und konnte mich nicht ent­schlie­ßen, das Er­leb­nis "Fahren" aufzugeben.
as ganze Gebiet war durch Einsamkeit und Weite geprägt. Manch­mal war weder ein Baum noch ein Strauch zu sehen, dann wie­de­rum säum­ten dichte Eichenwälder die Straße oder setzten ver­ein­zel­te Zy­pres­sen­reihen Akzente am Horizont. Streckenweise sah diese Land­schaft wie ein Sanddünenmeer aus, das aber mit grünen, samtenen Wei­zen­tep­pichen bewachsen war, manchmal mit einem Muster aus leuchtend­rotem Klatschmohn durchsetzt.
Im Kloster Sant 'Anna in Camprena
inige Kilometer vor Pienza zweigte ich ein allerletztes Mal von der Hauptstraße ab und bog in eine meinem Gefühl nach viel ver­sprech­ende Nebenstraße ein. Es war das leichte Kribbeln, das mich dabei befiel, welches mir den Antrieb gab. Ich war noch nicht weit gefahren, als mein Blick auf einen etwas verwitterten Wegweiser fiel, der links hinauf auf ein Wäldchen verwies und auf dem "Sant' Anna in Camprena" stand. Weiterhin war zu lesen - und ich verstand nicht, welchen Zusammenhang es zwischen den beiden Aufschriften geben könne - "azienda biologica agrituristica".
Neugierig geworden und in der festen Überzeugung, auf einer guten Fähr­te zu sein, folgte ich der holperigen, zypressengesäumten Schot­ter­stra­ße etwa einen Kilometer weit. Recht bald war das Ende dieses Sträß­chen erreicht. Es hatte sich zu einem kleinen Platz verbreitert, der sich durch ein abgrenzendes Brüstungsmäuerchen ein wenig wie eine Ter­rasse ausnahm, die sich über eine weite, einsame Landschaft erhob. Ihr gegenüber stand, erhaben und allein auf weiter Flur, die alte Klos­ter­kir­che. Ich blieb einige Zeit fast verwirrt vor der Kirche stehen, gefangen wie ich war vom archaisches Fluidum, welches von diesem Ort ausging.
ls ich neben dem Eingang wieder ein Schild "azienda biologica agri­turistica" entdeckte, trat ich, noch immer zögernd und voller un­be­frie­digter Neugierde, durch das Portal ein. Es führte direkt in den stillen und verfallen aussehenden Kreuzgang und von dort durch eine Hintertür in ein intimes, zauberhaftes Gärtchen mit einem runden Fischteich in der Mitte. Eine Oase der Ruhe, so schien es mir. Ich inspizierte das Anwesen weiter, ohne jedoch auch nur den geringsten Hinweis auf eine Herberge zu finden, geschweige denn auf ein Lebenszeichen.
Endlich kam ein Mann auf mich zu, den ich zögernd befragte, ob denn die azienda in Betrieb sei, ob sie Gäste aufnehme und ob noch Zimmer frei seien.
Und welche Erleichterung verspürte ich, als er mit ruhigem toskaner Ak­zent alle Fragen bejahte. Ich erfuhr von ihm, dass eine größere Gruppe Amerikaner recht kurzfristig ihren Aufenthalt abgesagt hatte, und dass für heute nur noch zwei Gäste aus Genua angemeldet waren. Erstaunt folgte ich ihm auf dem Rundgang durch das Areal.
Er führte mich im Klostergebäude herum, erläuterte mir dies und jenes und begleitete mich schließlich zu einem langen Korridor, in dem sich die Türen der ehemaligen Schlafzellen der Mönche, aneinander reihten. Heute sind die Zellen spartanisch für Besucher eingerichtet.
Da ich innerlich bereits entschlossen war, hier zu bleiben, waren meine Fragen zu den Kosten und sonstigen Bedingungen eine reine Formsache. Eine andächtige, ruhige Atmosphäre strahlte von den Räumlichkeiten aus. Für die meisten Zimmer gab es keine Schlüssel. Das elektrische Licht und eine Reihe von sauber eingerichteten, komfortablen Badezimmern auf dem Stockwerk waren das einzige Zugeständnis an die Moderne.
er amministratore erläuterte mir, dass die azienda hauptsächlich von Studiengruppen aus Universitäten und ähnlichen Einrichtungen be­sucht werde und man nicht über die üblichen Kanäle viel Werbung ma­che. Die amerikanische Gruppe, von der bereits die Rede war, hätte hier ein Fotografie-Seminar abhalten sollen. Nur wegen deren Absage sei es hier so leer.
Es sah fast so aus, als würde ich das Kloster ganz alleine bewohnen.
as Kloster Sant' Anna dient seit 1784, als die Mönche von den Kir­chen­ob­rigen vertrieben wurden, weil sie ihnen zu reich und mächtig geworden waren, nicht mehr seinem religiösen Zweck. Die Abtei und der ihr angeschlossene landwirtschaftliche Betrieb gehören heute dem Isti­tuto Diocesano Sostentamento Clero. Die Einkünfte dienen also haupt­säch­lich dazu, die Gehälter der Priester zu bezahlen, fließen aber auch noch der Caritas zu. Seit dem neuen Konkordat muss zwar auch die Kirche auf Rentabilität achten, dennoch wurde, auf Anraten des heutigen Ver­wal­ters, und im persönlichen Auftrag des Bischofs beschlossen, den Betrieb biologisch zu bewirtschaften.
Es entspreche mehr dem Geist der Enzyklika, nach der die Schöpfung nicht zerstört, sondern erhalten werden solle, betonte Herr Gonzi.
Pienza
or dem Abendessen nahm ich mir noch die Zeit, um in das etwa sieben Kilometer entfernte Pienza zu fahren.
Pienza ist eine auf dem Reißbrett entstandene Stadt. In Corsignano, - so hieß früher der kleine Ort - wurde 1405
Enea Silvio Piccolomini geboren. Dieser hoch gebildete Mann, der erst mit über vierzig zum Priester geweiht wurde und 1458 als Papst Pius II die Höhe seines Erfolges erreichte, nahm sich der Aufgabe an, das Dorf Corsi­gnano zu einer "Idealstadt" der Re­nais­sance im Sinne der philoso­phi­schen Ideen des 15. Jh. umzu­ge­stal­ten. Eine Pius-StadtPienza.
Den Auftrag dazu bekam der Architekt Bernardo Rossellino. Der schöne Stadtplatz mit Dom, Bischofspalast, Stadthaus und Papst­palast war noch nicht vollendet, als der Auftraggeber 1462 starb. Es wurde dennoch wei­ter­gebaut, wenn auch mit weniger Elan, und was daraus entstanden ist, gilt heute noch für die Kunstgeschichte als Wiege der Renaissance-Stadt­baukunst.
ährend ich also vor der kleinen Bar della Posta beim Aperitif saß und meine Blicke gemächlich zwischen der fein gegliederten Re­nais­sance-Fassade des Doms und den flanierenden Menschen wandern ließ, sah ich am Nebentisch eine kleine Gruppe
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wohlgekleideter, kultiviert aussehender Touristen. Ich konnte sie zuerst nicht so recht einordnen, denn sie sprachen Englisch abwechselnd mit amerikanischem, britischem aber auch deutschem Akzent. Der Distinguierteste von ihnen, der mit dem Kellner auf Italienisch Albernheiten wechselte, gab sogar mit ein paar Brocken Französisch an. Das Geheimnis lüftete sich erst, als wir ins Gespräch kamen. Der distinguierte Herr war Österreicher aus jener Ge­gend stammend, so betonte er, aus der die "richtigen" Österreicher kä­men – aus Vorarlberg. Allerdings nannte er Montecarlo seinen Wohnsitz, gab sich als Weltmann und behauptete, sich überall zu Hause zu fühlen.
Während der kurzen, interes­santen Konversation, die (um die anderen Gäste mit ein­zu­beziehen) teils auf Deutsch, teils auf Englisch stattfand , klärte sich auch das Geheimnis dieser bunt zusammen­ge­wür­felten Ge­sell­schaft.
Es waren Amerikaner, Australier und Briten, die mit einer Alter­nativ-Rei­segesellschaft aus Oxford - die beste, die es gebe, wurde mir ver­si­chert - zehn Tage lang die Toskana zu Fuß er­wan­derten. Natürlich mit dem ge­büh­renden Komfort, nicht allzu langen Ta­ges­etappen und Picknick-Pau­sen im Schatten großer Bäume. Das Gepäck wurde zum jeweiligen Zielort immer per Auto befördert .
Dort zog man sich zur Cocktailstunde entsprechend um und ging an­schließ­end zum kulturellen Teil des Tages über. Einer der Amerikaner diktierte seiner Frau akribisch alle Details ihrer Ta­ges­etappe für das Tagebuch, bis hin zu den Bestandteilen der Gerichte des Abendessens.
ienza ist bezaubernd. Nichts ist hier ohne Absicht entstanden, kein Haus, keine Gasse; nur der Mensch mit seinen Bedürfnissen, seinen Maßstäben und seinem Geschmack stand Pate. Pienza ist ein Meister­werk des Gleichgewichts und der Proportionen. Es ist funktionell und schön zugleich; kleine mittelalterliche Gassen stehen imposanten Pa­lästen und Kirchen gegenüber, während am Ortsrand Straßen angelegt wurden, die eine atemberaubende Aussicht auf den Monte Amiata bieten - ein Traum für Verliebte. Nicht umsonst findet man hier zwei idyllische Gassen, die sich "Via dell'amore" und "Via del bacio" nennen. Ich genoss diese späte Nachmittagsstunde, und wenn auch die dunstige Luft die volle Schönheit der Landschaft ein wenig verbarg, so sorgte eine graue, fast tropisch wirkende Gewitterstimmung für eine andere Art von Faszination.