Zurück in Sant'Anna
ch verweile im ehemaligen Aufenthaltsraum der Bischöfe (nach dem Auszug der Mönche hatte der Klerus den Ort als Sommerfrische be­nutzt), warte auf mein Abendessen und bewundere die sechs Meter hohe Deckenwölbung. An den Wänden hängen einige Gemälde und ein riesiger Stammbaum der Familie Piccolomini. Diese habe zwar öfter ver­sucht, schildert mir der nie um eine Erklärung verlegene am­mi­nis­tra­tore, den Besitz an sich zu reißen, konnte sich aber gegen die Kirche nicht durchsetzen. Der riesige Tisch aus dunklem Holz, an dem ich allein sitze, lässt mich an humoristische Szenen in düsteren englischen Schlössern denken, bei denen zwei extrem vornehme Personen so weit von­ei­nan­der entfernt sitzen, dass ihnen jegliche Kommunikation unmöglich ist. Ähnlich verlaufen die Tisch-zu-Tisch-Gespräche mit dem jungen Paar aus Genua, das ich, obwohl im Raum absolute Stille herrscht, wegen des starken Widerhalls des Gewölbes fast nicht verstehen kann.
s gibt zuerst "spaghetti, aglio, olio e peperoncino", durch die Zugabe von "funghetti trifolati" (fein geschnittenen Pilzen) besonders schmackhaft gemacht. Als zweiten Gang "nasello alla griglia" (gegrillten Seehecht). Begleitet wird das Essen von einem 13-prozentigen Na­tur­wein, den ich wegen seiner Wirkung mit Vorsicht genießen soll, empfiehlt mir der amministratore. Aber ich merke nichts davon. Der Wein steigt mir weder in den Kopf noch schlägt er mir auf den Magen. Er bringt mir nur eine wohltuende Müdigkeit und führt zu angenehmen, aber immer noch klar gefassten Gedanken. Dabei blicke ich zurück und muss gestehen, dass mir bisher fast alles, was ich auf dieser Toskana-Reise zu essen bekam, vorzüglich schmeckte; selbst das "Coniglio al Brunello" (Ka­nin­chen in Rotwein) von gestern Abend in Montalcino, wenn auch eher unergiebig, war geschmacklich hervorragend.
In den Gängen des Klosters
o geht der Tag zu Ende, bald ziehe ich mich in meine "Zelle" zurück, als "Mönch" unter imaginären Mönchen, zurückversetzt in eine sehr, sehr weit entfernte Zeit. Draußen fliegen die Schwalben noch lebhaft um­her und das einzig wahrnehmbare Geräusch ist das Singen der Vögel.
Dienstag, 4. Juni 1996
Montepulciano
ie Sympathie oder Antipathie, die ich für einen Ort empfinde, stellt sich ganz spontan ein, meistens kann ich gar nicht sagen warum, oft sind es nur Zufälle, die aber auf immer mein Empfinden prägen.
Montepulciano zeigte sich mir von seiner schlechtesten Seite. Es wirk­te auf den ersten Blick eher düster, fast ausgestorben. Auf dem Haupt­platz gab es nur eine Bar und insgesamt wirkte der Ort noch ver­schla­fe­ner als Montalcino. Ein Hund mit heraushängender Zunge und triefenden roten Augen stellte sich vor mich hin und bettelte um Pizza. Ich igno­rier­te ihn. Ich mag diese "würdelose" Unterwürfigkeit nicht. Erst als der letzte Bissen aus meiner Hand verschwunden war, zog der Vierbeiner von dannen – zum nächsten Tisch.
Der Himmel war inzwischen dunkelgrau, es blitzte in der Ferne und ich hoffte sehnlichst auf einen kräftigen Regen. Denn die Konturen der Landschaft waren völlig im Dunst verschwunden und die Silhouette der Stadt hatte nichts Gemeinsames mit der, die auf den Ansichtskarten glänzt.
s nervte mich. Ich war bei dieser Reise nicht so sehr auf Kunst und Kultur aus. Allenfalls in der Form, dass ich das Ambiente, das durch Architektur und Stil entsteht, auf mich einwirken lasse. Ich kann zwar Romanik von Gotik unterscheiden, und vielleicht auch einige Elemente der Renaissance zuordnen, aber ob die Fresken in der Kirche von San Francesco von Cristofano del Bindoccio gemalt worden sind oder von einem anderen Maler, ist mir, ehrlich gesagt, nicht so wichtig.
Es fing an zu tröpfeln. Dann steigerte es sich ein wenig, aber schließlich hielten die dunklen Wolken doch nicht ihr Versprechen. Es reichte nicht aus, um den Dunst aus der Luft zu vertreiben, wohl aber um die Luft innerhalb weniger Minuten merklich abzukühlen. Ich hielt es, unter die Markise geflüchtet, noch etwas aus und unterhielt mich kurz mit zwei Engländerinnen aus Manchester (Mutter und Tochter) über - was könnte britischer sein? - das Wetter.
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eim Abendessen spielte sich wieder diese eigenartig-angenehme Situation ab. Herr Gonzi (ursprünglich heiße er Konz, denn seine Ahnen stammten aus dem Trentino) unterhielt sich zwischen den Gän­gen mit mir, wir beide allein im großen Saal. Eigenartig diese Kom­bi­na­tion von Bildung, fein dosierter Eitelkeit und toskaner Akzent bei ihm. Er unterließ es nicht, sein Familienwappen zu erwähnen, von der Ver­bun­den­heit seiner Ahnen mit der Kirche zu sprechen, mich über die Etrusker als indogermanisches Kulturvolk und Träger einer hoch entwickelten Landwirtschaft aufzuklären (die Römer seien eher Soldaten und Ver­wal­ter gewesen) und, ohne sich näher über diese auszulassen, mich auf die autochthonen vorarischen Italiker hinzuweisen.
er gute Rotwein aus der Sangiovese Traube hob meine Laune und meine Aufnahmefähigkeit. Jeden Abend hielt ich mich beim Trinken etwas weniger zurück, weil ich merkte, dass der Wein, wie kräftig er auch war, mir weder in den Kopf stieg noch mich mit Müdigkeit bestrafte.
Wir unterhielten uns, zwischen minestrone und arrosti, zwischen pecorino und Kaffee auch über die Olivenernte. Er erzählte mir alles über die Öl­baum­flie­ge, die ihre Eier in die Frucht lege, über die kupfer- und schwe­fel­hal­tigen Spritzmittel, die bereits tausend Jahre vor Christus auch für die Olivenbäume verwendet worden seien, und über diese Gegend, in der die Herbstfröste früher kämen und damit die Ausbreitung der schäd­li­chen Fliege eindämmten. Auch deshalb gebe es hier ein besseres Öl als an der wärmeren Küste.
r erklärte mir den Unterschied zwischen den modernen Kupfer-Zink- und-Schwefel-Verbindungen und den alt­her­ge­brach­ten Spritz­mit­teln. Die heutigen Spritz­mit­tel, so Herr "Konz", wiesen nicht mehr die Nachteile der chemische Keule auf, deren Bestandteile sich auf die Weinstöcke setzten und auch im Wein in feinster Form noch zu finden sind. Sie ähnelten wieder mehr den Spritzmitteln der Großväter, die schonender gewesen seien, weil sie wegen ihrer größeren Moleküle zwar öfter gespritzt werden müssten, aber eben auch dadurch mehr klumpten und sich leichter im Wein absetzten, was dann leichter zu entfernen ist.
Keine dieser Geschichten würde mich erreichen, würde ich die Sprache nicht beherrschen. Wie taub und stumm ist man in einem fremden Land, in dem man sich nicht verständigen kann.
alls ich morgens aus dem Fenster schauen würde, könnte ich Rehe sehen, versichert mir Herr Gonzi vor dem Schlafengehen. Tatsächlich lief mir heute Abend ein Fasan direkt vor das Auto, flatterten zahlreiche Elstern und ein Eichelhäher erschreckt vor mir auf und dran­gen Dutzende verschiedener Vogelstimmen aus dem Wald. Nicht zuletzt die eines Kuckucks.