Pietrapertosa
Was für ein Kontrast: Nach dem tagelangen Auf-Achse-Sein mit Gleichgesinnten, nach fast einer Woche ste­ti­gem Kontakt mit der Warm­her­zigkeit der Neapo­litaner, jetzt die einsam-wilde Karg­heit der Basili­cata. Wie verlockend ist aber der grüne und bergige Rücken der Luka­ni­schen Dolo­mi­ten (Lucania ist der antike Namen der Basili­ca­ta). Von der Haupt­straße weg und ich bin sofort in einer anderen Welt.
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Ich fahre hi­nauf, hinauf und immer weiter hinauf bis zum Adlernest Pietrapertosa. Ein Juwel von einem Dorf. Das höchstgelegene der Lucania, übrigens.
Pietrapertosa: Kulisse für Liebende
Ein Donner von einer Stimme, ein Bulle von einem Mann, ein Mond von einem Gesicht! Runde durch­drin­gende schwarze Augen, grauer Bürs­ten­schnitt, kräftige Lippen. Merk­würdig, dass mir diese Ge­sichts­züge irgendwie be­kannt vor­kom­men, als hätte ich in der kurzen Zeit, in der ich hier im Süden unterwegs bin, die regional unter­schied­li­chen Gesichtsmerkmale der Men­schen bereits ken­nen­gelernt. So sah ich in den Marche Phy­sio­gno­mien, die jene meines Freundes Piero wider­spie­gelten, in Neapel fielen mir die charakte­ris­ti­schen gebo­genen Nasen à la Sophia Loren auf, und hier in der Lucania sind es eben die Qua­drat­schädel und die dicken, schwar­zen Augen­brauen vieler Männer.
Der Chef
Wir entdecken entzückende Plätze, die im italienischen Teil meines Herzens Erin­ne­run­gen wecken an ein Neapel, dass mein Bild von Italien entscheidend geprägt hat.
Er spricht mich – im Süden ist das so üblich – mit "Voi" (Ihr) an. Anfangs kommen nur Bruch­stücke von Sätzen über seine Lippen, er lächelt kaum, wirkt abweisend und ver­legen, und ich frage mich, ob er einen Gast wie mich, der gerade mal zwei Nächte in seinem Hotel verbringen wird, nicht eher als Störenfried betrachtet. In diesem ver­schla­fenen Ort abseits von allem bin ich zumindest eine ungewöhnliche Erscheinung.
Auf mei­ne Fragen hin be­ginnt er sich aber zu öffnen und rückt peu a peu mit seiner Le­bens­ge­schichte heraus. Er war siebzehn Jahre alt, als er in die Schweiz auswanderte. Von Ernte­helfer in der Land­wirt­schaft bis zum Hilfsarbeiter und schließ­lich Metall­ar­bei­ter in der Fabrik hat er alles gemacht. Und er legte – so weit er konnte – das hart ver­dien­te Geld bei Seite, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Irgendwann kam er ins hei­mat­li­che Dorf zurück und erwarb mit dem Er­sparten dieses Hotel. Weil aber das Geld im­mer noch nicht für alles ausreichte, ging er wieder für acht Jahre in die Schweiz, wäh­rend seine Familie im Dorf blieb. Das waren harte Zeiten für ihn.
Lampascioni
Weil der Koch, sein Sohn, einen freien Tag hat, bereitet heute der Chef persönlich die Speisen zu. Bald steht ein riesen­großer, dampfen­der Teller Nudeln mit Toma­ten­soße auf mei­nem Tisch. Das ist aber nur der erste Gang, denn kaum bin ich – mit etwas Mühe – damit fertig geworden, folgt schon der zweite: gegrill­tes Lamm­fleisch mit einer mir bis da­to un­bekann­ten Gemüseart, den "Lampascioni". Es handelt sich um die Zwie­beln der wild wachsenden "Schopfigen Trau­ben­hya­zinthe", also um Blumen­zwie­beln. In Nord­ita­lien werden sie cipollacci genannt. Von der Kon­sis­tenz und dem Geschmack liegen sie etwa zwischen Gemü­se­zwie­bel und Litschi. Köstlich! Wein wird mir dabei vom auf­merk­samen Wirt reichlich und kon­ti­nuierlich eingeschenkt.
Der Auswanderer
"Adesso mangio anch’io un pò di pane" (Jetzt esse ich auch etwas Brot), sagt der Wirt, und schon sitzt er am Ne­ben­tisch vor einem Teller, der von gegrill­tem Fleisch fast überquillt. Er spießt ein stück Lammfilet auf seine Gabel und reicht sie mir herü­ber. „Prendete, per me è troppo“ (Nehmt, für mich ist es zu viel). Etwas später gesellt sich ein wei­terer Gast zu ihm. Das Spiel wieder­holt sich. Der Gast – wohl ein Freund – wird regel­recht „ge­füt­tert“, direkt von der Gabel.
Das felsige Dorf
In der Konversation mit dem Einheimischen zeigt sich, was mehr als zwanzig Jahre Aus­land­auf­ent­halt für eine Men­ta­litäts­kluft hervor­gerufen haben. Täglich habe er acht bis zehn Stunden gearbeitet, sagt der Wirt mit Nachdruck. Hier im Dorf seien die Menschen hingegen antriebslos und ohne Initiative. Sie erwarteten alles vom Staat. Als das Ge­spräch zu den extra­commu­nitari (EU-Ausländern) wandert, die besonders hier im Süden auf Ablehnung stoßen, ergreift er für sie Partei. .
Auch er sei schließlich, wie Millionen Italiener vor ihm, ein Auswanderer gewesen. Jetzt habe er Verständnis für all die Men­schen, die die Not von der Heimat wegführt. Üb­li­cher­weise ernten aber auch Rumänen, die nach dem EU-Beitritt in großer Zahl in Italien wirt­schaft­liche Zu­flucht suchten, in Ita­lien nicht viel Liebe. Es heißt dann, sie ver­dien­ten sich ihren Unterhalt mit Diebstahl und Pros­ti­tu­tion. Auch hier über­rascht die aufge­schlos­se­ne Meinung des Wirtes. Ein Skandal für Italien sei es, nicht für die zur Pros­ti­tu­tion ge­zwungene fremde Frau.
Padre-Pio-Statue
Die andere Perspektive
Beim Frühstück komme ich mit dem Sohn des Ho­tel­be­sit­zers ins Gespräch. Zweiund­zwan­zig Jahre lebte er in der Schweiz (wo er zur Welt kam), jetzt sind es bald zwanzig Jahre, dass er in Pietra­pertosa lebt: als Koch und Verwalter im väterlichen Hotel. Mehr noch als bei seinem Vater spricht aus ihm der moderne Mitteleuropäer, dem die Men­ta­lität der archai­schen Welt seiner Ursprün­ge längst fremd ist. Wenn er über die Men­schen aus dem Dorf spricht, klingt er resigniert und seine Worte ver­an­schau­li­chen die ganze Malaise des "Mezzo­giorno", des noch immer ärmeren Südens von Italien.
Die Dorfkirche
Wie bereits sein Vater meint auch er, die Menschen im Dorf seien nicht in der Lage, aktiv ihre eigene Zukunft an­zu­gehen, ihr einziges Streben sei jenes nach "un posto fisso" (einer festen An­stel­lung), und das mög­lichst beim Staat. Auf die Idee, etwas zu unter­neh­men, beispielsweise Malkurse für Tou­risten an­zu­bie­ten, kämen sie nie. So werde im Dorf alles beim Alten bleiben.
Wir unterhalten uns auf Deutsch. Eine Sprache, die bei ihm einen unüber­hör­ba­ren Schweizer Akzent hat. Die Ver­mu­tung liegt nahe, dass er sehr gerne in der Schweiz geblie­ben wäre, ein Land, wo er immer wieder seinen Urlaub verbringt, zuletzt mit einem Klas­sen­tref­fen als Anlass. Seine Geschich­te erinnert mich ein wenig an eine Be­geg­nung, die ich vor Jahren mit einer jungen Rumänin im Banat hatte, bei der auch das Thema Zurück-in-die-Heimat war.
Pietrapertosa am Abend
Wenn ich ganz ehrlich bin, sind es, neben der intakten Architektur dieses Ortes, den bizarren Fels­for­ma­tionen und die Großar­tigkeit und Einsam­keit dieser Landschaft, gera­de die Über­bleibsel einer archaischen Welt, die mich fas­zi­nieren. Die gelben Lichter des abendlichen Dorfes, die fast an eine Weih­nachts­krip­pe denken lassen, die Stille und mein Abend­spa­zier­gang etwas außer­halb des Dorfes mit nichts außer den Sternen des Firma­ments als Szene­rie werden für mich ein Ein­tau­chen ins Ewige, ins Unendliche.