­
 
Matera
Matera, die zweitgrößte Stadt der Basilikata, ist berühmt für ihre außergewöhnliche Alt­stadt, insbesondere für ihre charakteristischen Siedlungen, die so genannten "Sassi" (wörtlich: "Steine"). Diese Siedlungen, die "I Sassi di Matera" genannt werden, wurden 1993 von der UNESCO als Erbe der Mensch­heit unter Denkmalschutz gestellt.
Booking.com
"Matera ist ein einzigartiger Ort auf der Welt, denn seine Be­woh­ner können behaupten, dass sie in den gleichen Häusern wohnen, in denen ihre Ahnen vor 9000 Jahren lebten". So ähnlich formuliert es, nicht ganz zu Unrecht, der berühmte eng­lischsprachige Rei­se­führer Fodor's.
Die Sassi von Matera
Die Sassi sind ein außer­ge­wöhn­liches Beispiel von Höhlen­sied­lun­gen im me­di­ter­ranen Raum. Das bereits seit der Jungsteinzeit besiedelte Gebiet gilt als eine der ältesten Städte der Welt. Der weiche Tuffstein dieser Gegend er­möglichte es, dass bereits vorhandene Höhlen weiter ausgehöhlt wurden. Mit dem abgetragenem Steinen konnten die Höhlen dann verschlossen werden.
In einer casa grotta
Das vornehme Hotel, in dem ich wohne, ist auch in den Tuffstein gebaut. Was für ein Kon­trast! Heute Luxus im Stein, gestern Armut im Stein. Das erzeugt bei mir ein äußerst merk­ würdiges Gefühl.
War die als Museum eingerichtete "Casa Grotta" (ita­ lie­nisch für "Höhlen­haus") am Vor­mit­tag noch gähnend leer, so stehen Mittags bereitsScharen von Ita­lie­nern, Japa­nern, Deutschen und an­dere Bustouristen vor der Kasse Schlan­ge. Ich ver­schie­be also einen weiteren Besuch auf später. Matera lebt heute größtenteils von diesem Welt­erbe-Tou­ris­mus. Wo früher Wohnungen waren, haben sich längst zahlreiche Boutiquen mit Souvenirs und hand­werk­li­chen Erzeug­nissen ein­quar­tieret.
Nicola di Matera
Nicola di Matera versucht auch auf seine Art, nämlich als selbsternannter Reiseführer, vom Ruhm seiner Stadt Profit zu ziehen. "Damit Ihr euch an mich erinnert", sagt er und lässt sich zusammen mit seinen "Beglück­ten" (drei Süd­tirolerinnen) fotografieren. Als ich auf seine Frage "Di dove siete" (von wo kommt Ihr), "Genova" antworte, startet er los, und überschüttet mich mit seinem Wissen. "Ge­nova, Norditalia, Milano, Norditalia, Firenze, centronord, Roma, centritalia".
Herr Corazza aus Matera
Ich komme mit dem achtzigjährigen Herrn Corazza ins Gespräch. Seine Familie von Kür­schner­handwerkern sei im 18. Jahrhundert noch im Veneto zu Hause gewesen. Er selbst sei früher auch Handwerker gewesen, und habe die stolze Zahl von zwölf Geschwistern gehabt. Die ganze Familie habe bis 1937 in den Sassi gelebt, dann sei es seiner Mutter zu beschwerlich geworden. Nur acht der Geschwister hätten überlebt, sagt er, das sei die natürliche Auslese gewesen, da es hier damals kaum medizinische Versorgung gab.
Felsenkirche
Er erzählt, wie die Sassi von Matera noch bis zum Zweiten Weltkrieg nicht als kulturelle Bereicherung sondern als nationale Schande betrachtet wurden. Tatsächlich lebten die Menschen hier in katastrophalen hygienischen Ver­hält­nissen. Bis 1952 beherbergten die Sassi noch 15.000 Ein­wohner. Danach wurden sie eva­kuiert und die Bewohner in die neu­en Stadt­teile umgesiedelt. Woraufhin das Stadt­viertel verfiel.
Erst Ende der 1980er Jahre begann man, die Bedeutung der Sassi neu einzuschät­zen; sie wurden restauriert und neu aufgebaut. Im Jahr 1993 nahm sich die UNESCO der Sassi an, stellte sie unter Denkmalschutz und erklärte sie zum Weltkulturerbe.
Chiesa di San Francesco d'Assisi
Herr Corazza ist stolz auf seine Stadt, obwohl er un­ter anderem auch in Mailand und Florenz lebte, alles Städte, betont er, die von Künstlern und Architekten erschaffen wur­den. Matera aber sei von der Natur selbst erschaffen worden. Zuerst (in der Steinzeit) hät­ten die Menschen auf der gegen­über­lie­genden Seite der Schlucht gewohnt, dann an der jetzigen Stelle. Matera sei einmal Hauptstadt der Basilikata gewesen (jetzt ist es Potenza). Der berühmte ita­lie­nische Poet Giovanni Pascoli habe hier unterrichtet, im Gebäude, das damals der Kirche gehörte, aber nach der Einheit Italiens konfisziert wurde.
Die Sassi - eine historische Kulisse
Wegen ihrem beein­druck­enden, zeitlosen Er­schei­nungsbild sei Matera sehr oft als Kulisse für Filme ausgewählt worden. So beispielsweise für:
La lupa ("die Wölfin") von Alberto Lattuada (1953)
Das 1. Evangelium nach Matthäus von Pier Paolo Pasolini (1964)
König David von Bruce Beresford (1985) mit Richard Gere
L'uomo delle stelle" von Giuseppe Tornatore (1995)
Die Passion Christi von Mel Gibson (2004)
In der Rosticceria an der Piazza del Sedile
Die Theke der Rosticceria (Delikatessenrestaurant) ist fast leer, es gibt keine Gerichte zum aussuchen, man muss auf Verdacht bestellen. Die Inhaberin versichert mir aber, dass bei ihnen alles naturbelassen sei, Wein und Käse chemiefrei aus eigener Her­stel­lung. Sie empfiehlt mir "Orecchiette mit cime di rapa".
Obwohl das Lokal, kaum mehr als eine Bar mit ein paar Tischen mit Plastiktischdecken, nicht besonders gemütlich ist, entsteht für mich sofort eine vertraute At­mosphäre. Die Kommunikation macht es aus!. Ich denke daran, wie gut ich es habe, Italienisch zu sprechen und wie problematisch doch Rei­sen sind, in Länder, deren Sprache man nicht versteht. Die Chefin liebt ihre Stadt. Seit 30 Jahre hätten sie und ihr Mann die­sen Laden. In Matera gebe es kaum Krimi­na­lität, sie habe nie Angst, wenn sie abends spät nach Hause geht. Gino, ihr Mann, fügt hinzu, dass es früher nur Ärger gab mit Mafiosi, die im nahe gelegenen Ort Monte­sca­glioso verbannt waren. Damals gab es eine Zunahme an Delikten und Schutz­geld­er­pres­sungen, aber die Banden hätten sich gegenseitig ausgerottet, jetzt sei es wieder ruhig in der Gegend.
Als der Film „Die Passion Christi“ gedreht wurde, erzählt sie, sei Mel Gibson mit Hun­der­ten von Mitarbeitern nach Matera gekommen, die überall untergebracht waren, Mel beispielsweise im Hotel Italia. Der Film habe ihr gefallen. Leider habe die politisch links stehende Stadtverwaltung alle Spuren, die die Amerikaner hinterlassen hatten, ge­löscht, anstatt sie touristisch auszunutzen.
Abendlicher Korso
Orangefarbenes Licht spiegelt sich in den glänzenden, glatt polierten Steinen des Kopf­steinpflasters. Die Via del Corso, die belebte Flanierstraße der Stadt, ist ein einziges Auf und Ab von Menschen. Alles ist auf den Beinen, niedliche Pärchen Hand in Hand, Mäd­chen mit kohlrabenschwarzen Katzenaugen, Trauben von jungen Mädchen in Jeans und Einzelgänger mit dem Handy am Ohr, sowie ältere Paare, die, Arme eingehakt, vor sich hin stolzieren, als seien sie die Royals in Person. Aber auch bei Männern ist hier im Süden Italiens das Eingehaktgehen sehr verbreitet.
Der abendliche Korso
Ganze Familien sind unterwegs, mit Papa, Mama und den Kindern. Alle nutzen die blaue Stunde der Dämmerung vor dem Abendessen, um die selbst auferlegte Pflicht des Kon­taktpflegens zu erfüllen. Sehen und gesehen zu werden, lautet die Devise. Auf den vollbesetzten Steinbänken sehe ich Mädchen auf dem Schoß ihres jeweiligen Freundes sitzen. Ein spastisch Gelähmter im Rollstuhl trifft auf Freunde, von denen er herzlich begrüßt und zärtlich auf die Stirn geküsst wird. Die älteren Männer sind meisten noch "klassisch" mit Sakko und Krawatte angezogen, die Jungen ungezwungen im amerika­nisch-saloppen Look.
Mir fallen ungewohnt viele markante Männergesichter mit scharf gezeichneten Ge­sichts­zügen, kräftigen Augenbrauen und blauen Augen auf. Die Nachfahren der Normannen? Dabei kommt mir der Gedanke: Kräftige Augenbrauen sind bei Frauen völlig verschwun­den, als hätte es eine ge­netische Mutation gegeben. Dabei wurden sie nur vom aktu­el­len Schönheitsideal weggefegt. Die ver­hält­nis­mäßig kürzeren Beinen hingegen, ein typisches Mer­kmal vieler Frauen des italienischen Südens, können selbst von hohen Stöckelschuhen nicht weg­ver­schö­nert werden. Aber als gäbe es eine Kompensation dafür, wird das Aus­sehen dieser nicht gerade langbeinigen jungen Mädchen durch wun­derbare weib­li­che Rundungen, von der so manche in die Höhe geschossene Frau nur träumen könnte, vollends kompensiert.