Orrido di Botri
a, ich wollte in Dantes Hölle, ins Orrido di Botri, in die Klamm des Mairana, die mit ihren senkrechten Wänden den Dichter der Gött­li­chen Komödie inspiriert haben soll. Und er sollte mich wahrhaftig sehr be­ein­drucken, dieser Eingang ins Schattenreich.
Nach dem Frühstück fuhr ich mit hoch geschraubten Erwartungen los - zum "Schrecklichen" (Orrido). In zahllosen Serpentinen schlängelte sich die Straße den Berg hinauf, auch hier in einem üppigen Umfeld von Edel­kastanien, Buchen und Eichen, deren Baumstämme von Efeu und an­de­ren Schlingpflanzen völlig umschlungen waren. über den gesamten Hang zogen sich die hellen, wolkenähnlichen Baumkronen der Robinien, in einem zartem Kontrast zum satten Grün des restlichen Waldes. "Una volta era tutto pieno di castagni" (früher gab es hauptsächlich Kasta­nien­bäume), sagte mir später eine Frau in Tereglio, "poi le acacie hanno preso il sopravvento" (dann haben sich die Akazien durchgesetzt).
Am Straßenrand sammelten sich die weißen Blüten und sahen wegen ihrer Menge wie Schneeverwehungen aus. Kurz vor Tereglio zweigte die Straße rechts zu der Schlucht ab. An den Berghängen leuchteten Gin­stersträucher und Kastanienbäume im Gegenlicht, der Himmel war tief­blau und klar.
ls ich mich aufmachte, einen vom Blitz getroffenen Baum wegen seines gespenstischen Aussehens zu fotografieren, merkte ich mit Schrecken, dass eine der Feststellschrauben meines Stativs fehlte, und obwohl ich unruhig im und unter dem Auto suchte und den gesamten Weg im tiefen Gras durchforstete, fand ich nichts. Das fängt ja gut an, dachte ich.
Ungeachtet dieser Tatsache begab ich mich wohlgelaunt und voller Er­war­tungen in den Wald, der zum Orrido führte. Ein Schild forderte die Wan­de­rer auf, den Weg nicht zu verlassen, die Natur zu schonen, und wegen des in dieser Jahreszeit stattfindenden Nestbaues der Adler eine bestimmte Stelle in der Schlucht nicht zu überschreiten. Das klang ja viel versprechend.
Bald merkte ich, dass der schma­le, manch­mal kaum sichtbare Pfad im Wald im­mer wieder den Bach über­querte, ich folgte ihm, von Stein zu Stein ba­lan­cie­rend, recht gerne, wenn auch anfangs noch etwas un­sicher. Spätestens beim dritten über­gang aber landete ich knö­chel­tief im Wasser. So zog ich kurz entschlossen meine (bereits nas­sen) Schuhe aus, knotete die Bänder zusammen, hängte sie mir um den Hals und watete dann vorsichtig durch das kalte Wasser. Das ausgezogene Sta­tiv diente mir als Wanderstock, um das Gleichgewicht auf dem unsicheren Boden besser halten zu können. Also hieß es immer wieder: Schuhe ausziehen, Hosen hochkrempeln, ins eis­kalte Wasser. Dann wieder Schuhe anziehen und auf dem jeweils anderen Ufer weiter marschieren.
Diese Prozedur war natürlich etwas Zeit raubend, und so versuchte ich zwischendurch immer wieder, so gut ich konnte, barfuß auf den ufernahen Steinen zu gehen, während sich meinen Augen eine immer wilder werdende Urlandschaft offenbarte, in der sich der Flusslauf mit kleinen Wasserfällen und Wirbeln, manchmal im Sonnenlicht glitzernd, manchmal dunkel im Schatten bedrohlich wirkend, zwischen den steilen, dicht bewachsenen Hängen talaufwärts schlän­gelte.
"Wohl fällt mir schwer, zu schildern diesen Wald,
Der wildverwachsen war und voller Grauen
Und in Erinnrung schon die Furcht erneut."
Eine Stunde muss ich so unterwegs gewesen sein, gedankenverloren und von einer subtilen Erregung begleitet, bis ich den Eingang zur eigen­tlichen Schlucht erreichte. Senkrecht erhoben sich die Wände rechts und links des Gewässers, das an dieser Stelle ruhig und tief aussah.
"So wandte sich mein Geist, noch immer fliehend,
Zurück, um zu beschaun die dunkle Talschlucht,
Die keinen, der drin weilt, lebendig ließ."
Von Ehrfurcht ergriffen blieb ich, kaum atmend oder auch nur das kleinste Geräusch erzeugend, minutenlang regungslos stehen, und diese Re­gungs­losigkeit, das Fehlen jeglicher Vogelstimmen, das stehende Wasser und die plötzlich eingetretene Windstille ließen mich schaudern, als ob ich tatsächlich vor dem Eingang zum Schattenreich stünde.
Einen Uferstreifen, den ich hätte begehen können, sah ich nicht. Aber meine Neugierde war geweckt und ich ließ mich nicht entmutigen.
Also wieder: Schuhe aus, Stativ auf die richtige Länge ausgezogen, Fotoapparat und -tasche um den Hals, Rucksack geschultert. Wie ein Weihnachtsbaum behängt watete ich vorsichtig in die Passage hinein. Ich fühlte mich ein wenig wie ein "Canjoneer", nur machte ich es nicht aus sportlichem Ehrgeiz, oder um mir etwas zu beweisen, sondern nur um zu sehen, was es weiter vorne zu sehen (und zu fotografieren) gab.
Es dauerte nicht lange, da reichte mir das Wasser bis zum Knie und es stellte sich mir erneut die Frage, ob dies das Ende meines Auskund­schaf­tens sein würde.
Ach was, dachte ich, während ich tiefer und tiefer in die Schlucht ein­drang, sollen doch die Hosen ruhig nass werden. Weit übers Knie reich­te mir mittlerweile das Wasser, aber ich konnte bereits den näch­sten kleinen Wasserfall sehen.
Man muss sich meine Situation so vorstellen: bis zu den Schenkeln im Wasser baute ich seelenruhig mein Stativ auf, montierte die Kamera und suchte nach dem passenden Ausschnitt. Natürlich war das Wasser eisig kalt, aber ich gewöhnte mich sehr schnell daran, der Körper hat da seine eigene Regulierung.
Ganz reibungslos war die Chose allerdings nicht. Eimal fiel mir die Brille in die Fluten, aber sie verklemmte sich glücklicherweise auf dem Grund unter einem Stein. Dann verletze ich mir einen Finger an einem Felsen - es war zwar nur ein Kratzer, aber er wollte nicht aufhören zu bluten. Und so ging es laufend weiter. Mit dem beschädigten Stativ kam ich mit allerlei Tricks einigermaßen zu Recht.
Der Teil der Schlucht, den ich begang, war eigentlich ziemlich harmlos, auch wenn er in den Augenblicken, in denen die Sonne von einer Wolke verdeckt war und der Wind unheimlich um die Ohren pfiff, ziemlich be­drohlich wirkte. Es gab keine großen Wasserfälle, die man hätte hinaufklettern müssen, die Wassertiefe war bescheiden und auch die Strömung sah nirgendwo gefährlich aus. Die größte Gefahr war ver­mutlich das Nasswerden der Kameras.
ch hätte noch längere Zeit weiterlaufen können, aber die Füße waren schon geschunden genug und der Nachmittag fortgeschritten. So machte ich mich auf den Rückweg. Sehr bald wurde mir die Prozedur des Schuhe-aus-Schuhe-an lästig und ich versuchte, den ganzen Rückweg barfuß zu bewältigen, balancierend von flachem Stein zu flachem Stein, wo dies möglich war, am Weg entlang. Man gewöhnt sich daran, und ist Barfußgehen nicht sowieso natürlicher als das Gehen in Schuhen?