Wissenswertes

Camorra

Ich erinnere mich, wie man, zur Zeit meiner Kindheit in Norditalien, oft und gerne ein anderes, miss­lie­biges Kind mit der Be­zeich­nung „camor­rista“ be­schimpf­te. Es stand für ge­mein, Schummler, Be­trü­ger. Ich dach­te mir nicht viel dabei. Erst viel später erfuhr ich den Zu­sam­men­hang mit der nea­po­li­tanischen Ver­bre­cher­or­ganisation Camorra.
Kampanien (Campania), dessen Haupt­stadt Nea­pel ist (Napoli), ist eine Re­gion an der West­küs­te von Ita­lien. Kam­pa­nien grenzt im Nord­wes­ten mit dem Latium, im Nord­osten mit Molise, im Os­ten mit Apu­lien, im Südosten mit der Basilicata und ist westlich vom Tyrrhenischen Meer begrenzt. Die rund 5,8 Millionen Einwohner konzentrieren sich größ­ten­teils im Ballungsgebiet von Ne­apel. Damit ist Kampanien die am dichtesten besiedelte Region Italiens.
Neapel ist eine wundervolle Stadt in jeder Jahreszeit. Aber es gibt Jah­res­zeiten, in denen man die Stadt lieber meiden sollte. Zwischen Oktober und März, beispielsweise. Denn dann stirbt man öfter! Die Po­li­zei­sta­tis­ti­ken be­sagen, dass es in den letzten 25 Jahren 3000 Morde durch die Camorra gab: ein Mord alle zweieinhalb Tage! Das ist eine Situation, die in Europa ihres­glei­chen nicht findet. In der Nach­kriegs­zeit hat die Camorra niemals aufgehört zu schießen. Allein 2004 gab es 139 Tote.
Der Begriff „Camorra“ bezeichnet die or­ga­nisierte Krimi­na­lität, die in der Region Kampanien ent­stan­den ist, und sich von hier inzwi­schen auch auf andere Ge­genden in- und außerhalb Italiens ausgebreitet hat. Bei der Camorra han­delt es sich aber nicht, wie bei der sizilianischen Mafia ist, um eine einzige kriminelle Or­ganisation. Die Struktur der Camorra ist viel kom­ple­xer, denn sie be­steht aus mehreren „cosche“ (Clans), die sich das Territorium betreffend, die Or­ga­ni­sa­tions­form, die wirt­schaft­li­che Stärke und die Art zu agieren stark unter­ei­nan­der unterscheiden. Die Camorra hat, anders als andere italienische Mafia-Or­ga­ni­sa­tionen, ihren Ursprung nicht in den ländlichen Gegenden son­dern in der Groß­stadt Neapel. Außerdem sind die ein­zelnen Clans oft untereinander vefeindet, was öfters zu Fehden und Camorra-Kriegen führt.

Sandokan Gomorrha
Sandokan - Eine
Erzählung der Camorra
Gomorrha, der Film

Die Camorra (spanisch für „Streit“) entstand zu Beginn des 16. Jahrhunderts während der spanischen Be­set­zung des Königreichs Neapel. Der allererste Kern der Camorra soll auf das Jahr 1417 zurückzuführen sein. Es war die sogenannte „Guarduna“, eine spanische Geheimgesellschaft, die in Sevilla gegründet wurde und auch in den Werken von Cervantes erwähnt wird.
Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden in Neapel die „compagnoni“, echte Vor­läufer der „camorristi„. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren es hingegen die „lazzaroni“ (wörtlich „Nichtsnutze“, „Gauner“, „Pöbel“), die sich mit der Kri­mi­nalität verbanden, um sich gegen die Truppen Napoleons zu wehren.
Seit 1820 gedieh die Camorra hauptsächlich in den Gefängnissen. In diesen Jahren gründet Pasquale Ca­puozzo, der erste Clanchef, die „Bella società ri­for­ma­ta“ (die schöne reformierte Gesellschaft).
Da sich die staatlichen und kirchlichen Institutionen nicht um die unteren sozialen Schichten und deren Probleme kümmerten, genoss die Camorra bei den kleinen Leuten, trotz ihres kriminellen und ge­walt­tä­tigen Vorgehens, ein hohes Ansehen, denn sie ga­ran­tierte wenigstens ein Minimum an Gerech­tig­keit. Im Jahr 1860 setzte der Präfekt der provisorischen Ein­heits­regierung, Liborio Romano, sogar dier Camorra als Bürgerwehr ein, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.
Für die Camorra bedeutet dies de Facto die offizielle Anerkennung.
1863 wurde aber das „Pica-Gesetz" verabschiedet, das im Wesentlich wegen das Brigantentum geschaffen wurde, aber auch zur Bekämpfung der Camorra ver­wen­det wurde. Es ermöglichte es, bereits auf Basis eines Verdachts zu handeln.
Angeklagte beim Prozess Cuocolo in Viterbo 1911
Am 8. November 1901 wurde die erste Enquete-Kom­mis­sion gegen die Ca­mor­ra gegründet. Der Herzog von Aosta, Emanuele Filiberto forderte zur Här­te ge­gen die Camorra auf. Man wartete auf eine Ge­le­gen­heit, um zu handeln. Diese Gelegenheit ist der 1906 begangene Mord an Gennaro Cuocolo und seiner Frau. Im Jahr 1911 wurde in Viterbo der Prozess wegen der Ermordung des Ehepaars Cuocolo eröffnet, bei dem zum erstenmal in der Geschichte der Camorra ein Kronzeuge auftauchte. Dank zahlreichen Zeu­gen­aus­sagen und dem Kronzeugen Abbatemaggio konnte der Prozess am 9 Juli 1912 zu zahl­reiche Verurteilungen führen.
Enrico Alfano und die acht Hauptangeklagten wur­den zu 30 Jahre Haft ver­ur­teilt, weitere 47 Angeklagte zu geringeren Strafen. Am 25. Mai 1915 lösten die Camorristen im Stadtteil Sanità, unter Vorsitz von Gaetano Del Giudice, die Camorra, welche eigentlich schon nach dem Prozess von Viterbo de facto aufgehört hatte zu existieren, offiziell auf.
Während der Zeit des Faschismus herrscht Ruhe auf der Camorra-Front. Es ging so weit, das Mussolini, nach den Erfolgen von Cesare Mori, dem "Prefetto di ferro" (eisernen Polizeichefs) gegen die Mafia in Sizilien, viele der in Vi­ter­bo verurteilten Camorrisit begnadigte, weil sie seiner Auffassung nach keine Gefahr mehr bedeuteten.
Die neue Camorra in der Form, wie wir sie heute ken­nen, bildete sich nach 1945. Viel dazu trugen die USA bei, als sie den Mafioso Lucky Luciano zum Zwangs­auf­ent­halt nach Neapel versetzten und dessen Kontakte zur Mafia nutzten.
In den 70er Jahren versuchte der im Gefängnis von Poggioreale (Neapel) ein­sitzende Boss Raffaele Cutolo, genannt „der Professor“, der Camorra wieder einen hierarchischen Charakter zu geben und gründete die Neue Or­ga­ni­sierte Camorra, die sich gegen die alten Camorra-Familien stellte, die sich ihrerseits zur Neuen Familie zusammenschlossen.
Der Krieg zwischen den beiden Familien endete Anfang der 80er Jahre mit der Niederlage der Neuen Or­ga­ni­sierten Camorra und kostete Hunderte von Men­schen das Leben. Die Neue Familie fiel kurze Zeit später auseinander.

In den 1980er Jahren totgesagt, hat sich die Camorra wieder zusam­men­ge­funden und operiert jetzt sogar auch außerhalb ihres angestammten Terri­to­riums. Trotz zahlreicher vernichtenden Bandenkriege zwi­schen den Clans hat die Camorra bis heute überlebt und sogar weite Teile der Politik und Wirt­schaft Süd­italiens unterwandert. In den letzten Jahren forderte ein Krieg zwischen dem Clan Di Lauro und einer Gruppe von Abtrünnigen, den so ge­nannten „scissionisti“, zahlreiche Opfer (allein 2004 / 2005 gab es über 100 Morde). Die Polizei konnte diesen Krieg nur durch ein Groß­aufgebot von 13.000 Beamten eindämmen.
Am 27. Februar 2005 wurde der Führer der scis­sio­nisti, Raffaele Amato, in Spanien festgenommen. Am 16. September des selben Jahres gelang der Polizei ein weiterer Schlag gegen die Organisation, als mit Paolo Di Lauro einer der wich­tig­sten Anführer verhaftet werden konnte.
Müllgeschäfte der Camorra
Mitte der 1990er schien die Camorra erneut am Ende zu sein, waren doch die meisten großen Bosse im Gefängnis. Dennoch ist ist die Organisation wieder verstärkt in Neapel aktiv geworden und hat die Stadt weitgehend unter ihrer Kontrolle. Jährlich gehen mehr als 100 Morde in Neapel auf das Konto der Ver­bre­cher­or­ganisationen, in der Regel von rivalisierenden Clans verübt. Touristen sind normalerweise nur von Klein­kri­minalität wie Diebstahl bedroht, vor allem in Nähe der bekannten Sehenswürdigkeiten.
Im Oktober 2006 begann in Neapel erneut eine Mord­serie zwischen kon­kur­rie­ren­den Clans, die in wenigen Tagen 12 Todesopfer forderte. Der damalige Innen­mi­nis­ter Giuliano Amato entsandte 1.000 zusätzliche Polizisten und Carabinieri ins Land für die Ermittlungen und um die Sicherheit der Touristen zu gewährleisten.
Die Camorra kontrolliert ihr Territorium mit Droh­un­gen, Gewalt und dank der stillschweigenden Duldung der Einwohner. Schätzungsweise 80 % der nea­po­li­ta­nischen Geschäftsinhaber zahlen Schutzgeld an die Camorra. In erster Linie profitiert die Camorra von der Armut in der Stadt Neapel, da sie sehr lu­kra­tive Jobs vergeben kann: Ein Kleindealer verdient ohne großen Aufwand das Zehnfache eines Piz­za­bä­ckers. In Neapel beträgt die Arbeitslosenrate 25 %, unter Jugendlichen sogar 50 %. So wird das organisierte Verbrechen zum Brotgeber für Tausende von Verzweifelten.
Manche Gegenden Neapels (im Norden und Nord­os­ten) sind zur No-Go-Area geworden. Verbesserungen wird es erst dann geben, wenn sich die soziale Lage verbessert, andernfalls sind alle anderen Maßnahmen zum Scheitern verurteilt. Die Haupteinnahmequellen der Camorra sind im Wesentlichen (und in dieser Reihenfolge): Drogenhandel, Pro­dukt­pi­raterie von Luxusgütern, durch Korruption und Erpressung erlangte Großaufträge im Baugewerbe, Waffenhandel, illegale Müllentsorgung und Schutzgelderpressung.