Wissenswertes

Malocchio

In seinem weltberühmten Roman „Christus kam nur bis Eboli“ beschrieb Carlo Levi die archaische, von Armut, Krankheit und Aberglauben geprägte bäuer­liche Welt des tiefen Südens Italiens, des „Mezzo­giorno“, in der Zeit zwischen den beiden Welt­krie­gen. In der Gedankenwelt jener Menschen lag die Ur­sache einer Sonnenfinsternis in den Sün­den der Dorfbewohner; Schlaf­wandler ver­wan­delten sich in Werwölfe, denen man, wenn sie nach Hau­se ka­men, die Tür erst nach dem dritten Mal Klopfen öffnen durfte; das Tragen von Amuletten gegen Krankhei­ten, wie es Heiligenbil­der, as­tro­lo­gi­sche Zei­chen, Wolfs­zäh­ne oder Kröten­knochen waren, war eine Selbst­ver­ständ­lich­keit.
In einer Welt, in der die mo­der­ne Medizin noch nicht angekommen war, sollten magische Handlungen die Krankheit be­siegen. Um – beispielsweise – Gelb­sucht zu kurieren, durfte der Er­krankte kei­nes­falls in Richtung Regen­bo­gen pin­keln und man legte ihm ein Messer mit einem schwarzen Griff auf die Stirn, einmal senkrecht und einmal wag­recht, um sym­bo­lisch ein Kreuz zu zeichnen. Um Zahn­schmer­zen, Bauchschmerzen oder andere Be­schwer­den zu kurieren, und vor allem, um den „Bösen Blick" abzuwehren, dienten Amulette, Sprüche und Formeln.
Man könnte meinen, dass im auf­ge­klär­ten 21. Jahr­hun­dert solche Über­bleibsel einer archai­schen, vor­christ­lichen Ge­dan­kenwelt ver­schwun­den seien. Weit gefehlt! Süd­ita­lie­ner und ins­be­son­de­re Nea­po­li­ta­ner tragen nicht selten Amu­lett­hörn­chen an einem goldenen Kett­chen um den Hals, oder es bau­melt ein solches an einem Band hinter dem Rückspiegel ihres Autos. Das größte Übel, gegen das sie sich damit schützen müssen, ist zwei­felsohne der „böse Blick“, „il ma­locchio„. Ein Mensch, der den „bösen Blick“ hat, ist der „jettatore“, sein Opfer der „jettato„. Das vom Phallus abge­lei­te­te Horn bringe Glück und wende das Böse ab, dieser Glaube ist bis zum heutigen Tage in Italien erhalten geblieben.
Laut einer Statistik des CICAP (Italienisches Komitee zur Bewertung para­nor­maler Ereignisse) hängen 11,4 % der italienischen Autofahrer Glücks­brin­ger in Form des roten Amuletthörnchens im Wagen auf, 7 % fahren mit einem Rosenkranz am Rückspiegel, 19,2 % ziehen andere Glücksbringer vor. Die Hälfte der Italiener liest Horoskope, ins­ge­samt 70 % sind abergläubisch. Laut einer Umfrage des Komitees aus dem Jahr 2013 sind nur die Letten und die Tschechen abergläubischer als die Italiener.
Eine der typischsten Gesten der Italiener ist die so­genannte „mano cornuta“ (Hörner). Wenn die „Hör­ner“, d. h. die aus­ge­streck­ten Finger, nach oben und auf ei­nen Mann gerichtet wer­den, entspricht dies einer Belei­digung, gemeint ist nämlich damit, dass der Mann von sei­ner Frau betrogen wurde, und des­halb cornuto (ge­hörnt) ist. Zeigt man aber mit den Fingern nach unten, dann ist dies eine Be­schwö­rungs­ges­te wie auch das Anfas­sen eines me­tal­le­nen Ge­gen­stands. Der ty­pi­sche Neapolitaner muss auch ganz schnell ein Stück Metall anfassen (tocca ferro), wenn ein leerer Lei­chen­wa­gen an ihm vorbeifährt.

Überreste von früherem, heute nicht mehr ganz ernst genommenem Aber­glauben findet man in den Gewohnheiten der Italiener noch in großer An­zahl: Zieht man einen Pullover falsch herum an, wird es Regen geben; verschüttet man Salz, bedeutet dies Unglück; am Silvesterabend sollte man keine Wä­sche auf der Leine haben, sonst gibt es einen Toten in der Familie; etwas Neues anzuziehen, bringt Glück im kommenden Jahr. Und wer Linsen zu Sylvester verspeist, kann sich über Geldsegen freuen.

Man kann vielleicht guten Gewissens daran zweifeln, dass je­mand noch an die Wirkung eines Amuletts oder solcher Hand­lun­gen glaubt. Was sollte man aber dann denken von den un­ge­wöhn­lichen Me­tho­den, de­ren sich Ita­lie­ner – und insbesondere Nea­po­li­taner – bedienen, um ihren Lot­to­zettel aus­zu­füllen? Das mystische nume­ro­lo­gi­sche System der Smor­fia, das auf der Deutung von Träu­men basiert, dient ihnen immer noch dazu, Hinweise auf die ver­meintlich Gewinn bringenden Zahlen des Lotto zu er­lan­gen. Alles, was man im Wachzustand oder in Träumen erlebt, wird demnach in Zahlen um­ge­deutet. „La smorfia“, das uralte „Buch der Träume“, soll angeblich auf die jüdische Cabbala zu­rückzuführen sein. In der Numerologie dieses Buches steht bei­spielsweise ein Schwein für „4“, ein Soldat für „12“, ein Kopf für „34“, Geld für „46“, ein Toter für „47“, ein sprechender Toter für „48“, ein ge­deck­ter Tisch für „82" usw.

Im Jahr 1950 gab es einen Film mit dem be­rühm­ten neapoletanischen Ko­mi­ker Totò mit dem (dem Buch der Träume nach eigentlich ungenau­en) Titel „47 morto che par­la“ (47, sprechender Toter).

Aber nicht nur die kleinen Leute glauben an jene Dinge, die für unseren Ver­stand unerreichbar sind:
 Der ehemalige Fiat-Chef Gianni Agnelli glaubte an die heilsame Wirkung der Uhren, falls sie nach einem bestimmten System im Raum verteilt werden.
 Federico Fellini war hingegen davon überzeugt, dass der Erfolg eines Fil­mes von Einsatz bestimmter Komparsen abhing.
 Berühmt geworden ist auch das Foto des ehe­maligen Präsidenten der Re­publik Gio­vanni Leone, der am Grab des Unbekannten Soldaten die oben be­schriebene Be­schwörungsgeste der gespreizten Finger machte, um das Un­heil, das von den Toten ausgeht, abzuwehren.

 Roberto Calderoli, ein Politiker der rechts­po­pu­lis­ti­schen Partei Lega Nord, der für seine rassistischen Äußerungen bekannt ist, beschuldigte den Vater der aus Afrika stammenden ehemaligen Inte­gra­tions­mi­nis­terin Cécile Kyenge, eine „Macumba“ (Neu­ita­lienisch für „Zauberspruch“) gegen ihn aus­ge­spro­chen zu haben. Nur so könne er sich den Tod seiner Mutter, einen gebrochenen Wir­bel und seine sechs chi­rur­gischen Ope­rationen erklären, äußerte der Po­litiker im Wochenmagazin „OGGI“.

 Der Regisseur Franco Zeffirelli vermeidet es, den Namen einer be­stim­mten Person auszusprechen, von der er glaubt, sie bringe Unglück.
 Die Sängerin Iva Zanicchi beginnt immer mit dem linken Fuß, wenn sie die Fluggasttreppe besteigt.
 Alessandra Mussolini, Enkelin des fa­schis­ti­schen Diktators und rechts­kon­servative Politikerin, ist fest davon überzeugt, dass ihr einmal eine Kol­le­gin durch ihren „strengen Blick" Rückenschmerzen verursacht hatte, die tagelang anhielten.
 Die Zirkusleiterin Moira Orfei ist sich sicher, dass sie selbst die Kraft ha­be, den „bösen Blick" abzuwehren!
 Die Schauspielerin Maria Grazia Cucinotta behauptet, von ihrer Groß­mut­ter all die Fertigkeiten mitbekommen zu haben, mit denen man den Bösen Blick (malocchio) abwenden kann.
Herrlich der Satz des berühmten Schauspielers und Theaterautors Eduardo De Filippo: “Abergläubisch zu sein ist etwas für Dummköpfe, es aber nicht zu sein bringt Unglück”.

Dass Aberglaube noch tief in der italienischen Gesellschaft verankert ist, ver­raten auch die Zahlen. Fast 10 % der Italiener geht zu Magiern und Wahr­sa­gern. "Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen Italiener", so schätzte das Magazin "L'Europeo", „vertrauen in die Welt der Magie."
Der Glaube an die katholische Kirche ist hingegen nicht mehr so fest wie in den vergangenen Generationen. Allerdings gibt es in der volks­tüm­li­chen An­schauung der italienischen Gläubigen kaum Unterschiede zwischen Magiern, wundertätigen Mönchen und Heiligen. Daher vermischt sich an manchen Kult­stätten und bei manchen Prozessionen christliches Brauchtum mit heidni­schem Aberglauben.

Wahrsager, Zauberer („maghi"), Kar­tenleger, Gesundbeter, Hand­auf­leger, Handleser(innen), Astrologen, Scharlatane aller Couleur: In Italien soll es über 100.000 von ihnen geben. Es ist, als hätte die Auf­klä­rung nie­mals statt­gefunden, derart ungebrochen ist die Tradition der "ma­gia popolare" (volks­tümlichen Magie) in Italien. Und weil viele Italiener dem Übersinnlichen mehr trauen als den Ärzten, Priestern und Sozialberatern, und sie sich deshalb immer häufiger mit ihren Sorgen an Wun­der­hei­ler oder Wahr­sa­ger wenden, er­le­ben Zauberei und Wahrsagekunst – und das Geschäft mit diesen – einen nicht enden wollenden Boom, von den Massenmedien, die auf den Trend ein­ge­gangen sind, kräftig unterstützt.
Zauberer und Wahrsager haben Konjunktur! Sie sagen die ge­win­nen­den Lot­tozahlen voraus, geben den gewinnbringenden Bör­sen­tipp, nennen den gün­stigsten Augenblick für die Un­terzeichnung eines Vertrags – und das auch im Fernsehen! Mit Aberglauben und Zauberei lässt sich auch in unserer auf­ge­klär­ten Zeit dank der Massenmedien ein Vermögen verdienen.

In Italiens Fernsehen dürfen Wahrsager für sich werben, wie sie wollen, denn in Italien gibt es bis heute kein Gesetz, das solche Werbung verbietet, obwohl sie irre­führend ist.
Wanna Marchi, lange Zeit Italiens bekannteste TV-Wahrsagerin, ging aber zu weit: Sie hatte in privaten TV-Sendern um Kunden geworben, worauf ihr rund 300.000 Fernsehzuschauer auf den Leim gegangen waren. Mit dem Ver­spre­chen, sie vom bösen Blick und anderen negativen Einflüssen zu „befreien“ und mit dem Vor­aus­sa­gen der Lottozahlen ergaunerte sie mehr als 30 Mil­lio­nen Euro. Schließlich wurde sie, zusammen mit ihrer Tochter und fünf wei­te­ren Mitarbeitern verhaftet.
Nicht anders erging es dem Hellseher Francesco De Barba aus Sanremo, der zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt worden war und nach zehn Mo­na­ten auf der Flucht von der Polizei verhaftet wurde. Die Verurteilung kam deshalb zustande, weil er einer unzurechnungsfähigen Frau für 50.000 Euro eine Wohnung im Jenseits „verkauft“ hatte.

Es gibt eine Vielzahl von Firmen, die per Postversand magische Accessoires und Talismane anbieten sowie Salben, Pülverchen und Weihrauch. Aus den An­zei­gen dieser Firmen wird deutlich, dass die Aktivitäten dieser Anbieter hart am Rande der Legalität liegen. Schaut man etwas genauer die Kleinanzeigen der Zeitungen, die einschlägigen Magazine und Fernsehprogramme an, so findet man zahllose Astrologen, Handleser, Wün­schel­ru­ten­gänger, Hellseher, Parapsychologen, Menschen mit übernatürlichen Kräften und Magier, die für Entgelt ihre Dienste anbieten. Sie können angeblich in der Liebe, im Beruf und bei gesundheitlichen Problemen helfen und erst recht gegen den bösen Blick.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, zu erfahren, dass ein Gericht die grundsätzliche Ent­scheidung traf, dass Magie und Handlesekunst in Italien Aktivitäten darstellen, "welche die Gesellschaft im Allgemeinen interessieren". Und dass der Beruf der Hexe damit "von kollektivem Nutzen" sei. Die Hexe genießt also Rechtsschutz, muss aber für ihre okkultistischen Leistungen eben­so Steuern zahlen wie jeder Arzt auch.
 
 
Christus kam nur bis Eboli
Christus kam nur bis Eboli